Kriegs-, Krisen- & Konfliktfotografie
Interview mit Lena Mucha

Mit der Fotografie die Welt verstehen

Immer wieder gibt es Fotograf*innen, deren Zugang zum Fotojournalismus an eine bestimmte Region gekoppelt ist. Dazu gehört auch die Fotografin Lena Mucha, die über ihre Erfahrungen als Ethnologin in Kolumbien den Weg in die Dokumentarfotografie fand. Heute arbeitet sie weltweit vor allem zu Genderthemen, Menschenrechten sowie unterrepräsentierten gesellschaftlichen Gruppierungen. Andreas Herzau sprach mit Lena Mucha im Rahmen unseres Themenschwerpunkts »Kriegs-, Krisen & Konfliktfotografie« über ihr Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, Themen außerhalb des Mainstreams zu finden und ihre Verbundenheit zu Lateinamerika.
Fotos – Lena Mucha

Andreas Herzau: Du schreibst in deiner Vita, dass du in Berlin und Bogota lebst. Wie hat man sich das vorzustellen?

Lena Mucha: Ich kam 2009 im Rahmen meines Studiums für ein Jahr nach Kolumbien. In der Zeit habe ich auch begonnen, zu fotografieren. Seit dieser Zeit bin ich immer wieder für eigene Projekte und Aufträge dort, mal länger, mal kürzer.

Wie würdest du deine fotografische Arbeit im Kern beschreiben?

In meinen eigenen Projekten beschäftige ich mich natürlich hauptsächlich mit Fragestellungen, die mich persönlich interessieren. Meist sind das soziale Themen. Orte und Menschen, die ich besser verstehen möchte, Gruppen, zu denen der Zugang nicht ganz einfach ist. Gerade da finde ich es spannend, eine ganz andere Welt zu betreten, die sich mir ohne Kamera vielleicht nicht erschließen würde. Ich bin mir bewusst, dass dies ein großes Privileg ist und bin immer wieder dankbar dafür, wie sich die Menschen uns gegenüber öffnen und ihre Geschichten mit uns teilen.

Woher kommt dein großes Interesse an Lateinamerika?

Ich habe mehrere Jahre in Lateinamerika gelebt. Direkt nach dem Abitur war ich zwei Jahre in Guatemala und habe dort in verschiedenen sozialen Projekten, u.a. in der Aufarbeitung des Genozids sowie mit Mitgliedern der Maras, der Jugendbanden in Mittelamerika, gearbeitet. Im Rahmen meines Ethnologie-Studiums und danach war ich für mehrere Jahre in Kolumbien, wo ich u.a. mit Überlebenden des bewaffneten Konfliktes gearbeitet sowie meine Magisterarbeit geschrieben habe. Diese Erfahrungen haben mich sehr geprägt.

»Sechs Stunden dauert das Ausdauer- und Kampftraining jeden Tag, an dem die Mitglieder der ELN teilnehmen müssen, die erst seit kurzem in den Reihen der Rebellen kämpfen. Nach sechs Wochen oder auch etwas länger, je nachdem, wie fügig sie sind und lernen, sind sie ausgebildet. Zu dem Training gehört auch, stundenlang regungslos in der Hitze zu liegen und so zu lernen, sich bei einem Angriff vor dem Feind zu verstecken.«
»Jeison, 23, mit seiner Frau und seinem einjährigen Sohn in einer Hütte, die sie sich mit anderen ELN-Mitgliedern teilen. Die junge Familie ist nur ganz selten vereint. Jeison ist ELN-Kämpfer und lebt normalerweise in einer kleinen Gruppe versteckt im Dschungel. Da die Gruppe gerade für zwei Wochen in einem Dorf im Chocó campiert, konnten seine Frau und sein Sohn ihn dort besuchen. Handys zu besitzen, ist den ELN-Kämpfern nicht erlaubt. Und so haben sie nur wenige Male im Jahr Kontakt zu ihren Familien.«

Du hast dich fotografisch mit Themen wie z.B. »Frauen an der Front in Armenien« oder den »Teenage Rebellen Kämpfern der ELN in Kolumbien« beschäftigt. Was hat dich dazu motiviert?

Mir hilft die Fotografie, die Welt zu verstehen. Wenn ich in Armenien diese jungen Mädchen treffe, die sich entschieden haben, für ihr Land zu kämpfen, gibt mir die Fotografie die Möglichkeit, mich ganz nah mit den Menschen und dem Geschehen zu beschäftigen und so diese Haltung besser zu verstehen. Mit 14 Jahren wäre es für mich in meinem Kulturkreis vollkommen unvorstellbar gewesen, für mein Land zu kämpfen und vielleicht auch zu sterben. Ähnlich ging mir das mit den ELN-Rebellen, die ja auch Kinder bzw. Teenager sind. Durch die Fotografie und die Zeit, die ich mit den Menschen verbringe, entsteht eine Nähe, die es mir dann erlaubt, einen besseren Zugang zu diesen Themen zu bekommen. Gleichzeitig geht es mir natürlich auch darum, Licht auf diese Themen zu werfen.

Ist so ein Thema wie »Frauen an der Front« nicht schon ein sehr spezielles Thema, wo uns Absonderliches aus der fernen Welt präsentiert wird?

Vor Ort ist das ja nicht absonderlich, sondern ganz alltäglich. Es ist eher so, dass ich auf Geschichten und kulturelle Phänomene treffe, die mir zunächst fremd sind. Durch die Fotografie kommt man sich dann näher und stellt fest, dass es durchaus gemeinsame Fragen gibt, wie zum Beispiel: Was ist mir im Leben wichtig? Was motiviert mich und warum? Wovor habe ich Angst?

Gerade das Thema Kolumbien war ja in den letzten Jahren aufgrund des Friedensabkommens zwischen der Regierung und der Guerilla medial sehr präsent. Man hatte das Gefühl, jeder der wollte konnte zu den Guerilleros in den Urwald reisen. Du warst bei der ELN, nicht der FARC. Wie hast du dort Zugang bekommen?

Ich war gemeinsam mit einem Kollegen bei der ELN. Der erste Kontakt lief über ihn und dann haben wir uns bei der Gruppe mit unserem Anliegen vorgestellt und wurden eingeladen.

»Francy, 19, und Dario, 24, leben zusammen auf einer Kaffeefarm in Kolumbien. Sie gehören der indigenen Gruppe der Emberá Katio an. Beide haben ihr Heimatdorf verlassen, weil sie dort als Transgender von ihren Familien nicht anerkannt werden. Einige der Frauen werden auch nach indigenem Recht bestraft. ›Es ist eine Krankheit, die der weiße Mann uns gebracht hat, und sie ist ansteckend.‹ Auf den Kaffeefarmen sind sie aufgrund ihrer guten Arbeitskraft anerkannt und können ihre transgender Identität frei leben.«
»Jeden Samstag fahren die Frauen in das nächstgelegene Dorf, um einkaufen zu gehen und sich mit anderen transgender Frauen aus der Umgebung zu treffen. Die Dorfbewohner haben sich mittlerweile an sie gewöhnt, auch wenn Kolumbien ein sehr konservatives Land ist«, erkärt Lena Mucha. »Ich erinnere mich an eine Szene, als eine der Frauen von einem Indigenen derselben Ethnie verbal angegriffen und beleidigt wurde. Da wurde mir das Ausmaß der Diskriminierung erst ganz bewusst.«

Du beschäftigst dich in deiner Fotografie auch viel mit Geschlechterfragen und Geschlechterverhältnissen. Was interessiert dich daran?

Es ist wohl eher ein Interesse an Frauenthemen. Das liegt daran, dass ich mich in eine Frau besser hineinversetzen kann. Auch wenn ich die westliche junge Frau bin, kann ich mich in die junge Rebellin in Kolumbien hineinversetzen. Ich beschäftige mich aber nicht ausschließlich mit Genderthemen!

Hast du ein Ziel, welches du mit deinen Bildern erreichen willst?

Mein grundsätzlicher Anspruch ist, dass sich beim Betrachter etwas bewegt. Es geht mir nicht nur um die bloße Darstellung und Dokumentation von Informationen, sondern auch darum, dass eine Verbindung zwischen den Betrachter*innen und den Fotos entsteht.

Einen Großteil deiner Projekte realisierst du im Ausland. Wie finanzierst du deine Geschichten?

Vor allem durch Stipendien und Aufträge, die ich mit eigenen Projekten verbinde.

Viele Kolleg*innen klagen, dass es schwierig ist, Geschichten auf eigene Faust und Rechnung vorzuproduzieren. Woran liegt es, dass dies in Lateinamerika ohne großen Aufwand möglich ist?

Ich würde nicht sagen, dass es in Lateinamerika einfacher ist. Der (finanzielle) Aufwand hängt immer von der Geschichte und dem Kontext ab.

Aber die Tatsache, dass man ein Land gut kennt und die Sprache spricht, erleichtert die Recherche und Arbeit vor Ort natürlich. Da ich viele Jahre in Lateinamerika gelebt habe und fließend Spanisch spreche, ist das Arbeitsumfeld für mich dort vertraut.

»Im Mai 2017 wurden tausende Menschen durch interkommunale Kämpfe in der Provinz Tnaganyika im Osten der Demokratischen Republik Kongo aus ihren Siedlungen vertrieben. In der Kleinstadt Kalemie haben 200.000 Binnenvertriebene Zuflucht gesucht. Einige von ihnen sind in diesem Schulgebäude untergekommen, die meisten leben unter sehr prekären Bedingungen in provisorischen Flüchtlingslagern.«
»In Grudja, einem kleinen Dorf im Osten von Mosambik, warten Patienten und die lokale Bevölkerung vor dem Gesundheitszentrum auf eine Behandlung durch Ärzte der Johanniter. Durch den Zyklon Idai Mitte März 2019 und die folgenden Überschwemmungen wurde das Gesundheitszentrum vollständig zerstört. Tagelang stand es unter Wasser, Medikamente und Einwegspritzen wurden herausgeschwemmt und lagen verstreut herum. Die qualitativ sowieso schon sehr schlechte Gesundheitsversorgung war nun seit drei Wochen völlig ausgefallen.«
»Frauen warten auf die Verteilung von Saatgut in Cafumpe im Distrikt Gondola in Mosambik, knapp 200 km westlich von der Hafenstadt Beira. Während der Alltag dort, auch durch die hohe Präsenz von internationalen Hilfsorganisationen, relativ schnell zu großen Teilen wieder eingekehrt ist, sieht es in den entlegenen Regionen auf dem Land nach den tagelangen Überschwemmungen, die auf den Zyklon Idai folgten, noch ganz anders aus. Große Teile der Ernte und Felder wurden zerstört und damit die Existenzgrundlage der lokalen Bevölkerung. Die Verteilung von Saatgut sowie Werkzeugen, um die Felder neu zu bestellen, ist ein dringendes Unterfangen, um eine drohende Hungersnot zu verhindern.«

Würdest du sagen, dass es in der Fotografie so etwas wie einen weiblichen Blick gibt?

Per se kann man nicht unterscheiden, ob ein Foto von einer Fotografin oder einem Fotografen aufgenommen wurde. Natürlich erleben Frauen und Männer unterschiedlich und blicken und fühlen dementsprechend ganz anders. Vielleicht gibt es bei Frauen auch mehr Nähe oder das Bild wirkt sanfter. Aber ich würde da sehr aufpassen, von einem weiblichen Blick zu sprechen: Ich habe mich diesbezüglich schon oft geirrt. Ich glaube eher, dass wir auf Grund unseres Geschlechts und unseren unterschiedlichen Erfahrungen einen anderen Zugang zu bestimmten Themen haben.

Es gibt Fotografinnen die darüber berichten, dass sie teilweise einen Vorteil hätten gegenüber ihren männlichen Kollegen, da sie unter dem Radar laufen, so als ob sie nicht ernst genommen würden. Hast du als Frau manchmal einen besseren Zugang, als deine männlichen Kollegen?

Das Auftreten und das äußere Erscheinungsbild machen natürlich viel aus. Vielleicht haben wir Frauen dadurch Vorteile. Ich würde aber nicht sagen, dass das mit »nicht ernst genommen werden« zu tun hat, sondern eher, dass eine Frau in bestimmten Situationen und Kontexten weniger Gefahr ausstrahlt als ein Mann.

Bei Reportagen, in denen es ganz spezifisch um Frauen geht, habe ich natürlich aufgrund meines Geschlechts einen Vorteil. Aber es gibt genauso Themen und vor allem Regionen, in denen dann eher Männer einen besseren Zugang haben und mehr gebucht werden.

»Adele Masengo, 41, mit ihren fünf Kindern. Ich traf sie während einer Recherche zu den Folgen des Kobaltabbaus im südlichen Kongo«, erinnert sich Lena Mucha. »Adele’s Mann arbeitet in einer Kobaltmine. Ihre älteste Tochter wurde mit 12 Jahren blind. Außerdem hatte sie eine Fehlgeburt, ein missgebildetes Baby starb kurz nach der Geburt. Schäden infolge des Bergbaus? Adele berichtete, dass ihren Babys und auch aus ihrer Plazenta nach der Geburt Blut abgenommen wurde – sie aber nie die Ergebnisse bekamen. Über die Hälfte des Kobalts in unseren Handys, Laptops, E-Bikes und Autos kommt aus dem Kongo.«

Wenn du als junge weiße Mitteleuropäerin zum Beispiel im Kongo oder Lateinamerika fotografierst, siehst du dabei die Gefahr eines kolonialistischen Blickes auf diese Welt dort?

Das kann natürlich leicht passieren. Aber ich glaube, dass ich in den Begegnungen mit anderen Kulturen immer auf Augenhöhe achte, nicht zuletzt vielleicht auch auf Grund meines Ethnologie-Studiums und meiner langjährigen Auslandserfahrung.

Um auf fremde Kulturen zu treffen, muss man außerdem nicht bis in den Kongo reisen, auch hier gibt es Subkulturen, die mir fremd sind. Es geht in unserem Beruf ja gerade darum, uns in das »Andere« hineinzuversetzen und möglichst wertfrei zu beobachten und kommunizieren.

Wäre es eine Alternative, Fotografen und Fotografinnen dort vor Ort zu beauftragen, die Geschichten zu fotografieren?

Ich finde es wichtig, diese Fragestellung differenziert zu betrachten. Generell macht es natürlich Sinn, lokale Fotograf*innen zu beauftragen, auch in Bezug auf Ressourcenschutz und Kosten. Man kann aber nicht verallgemeinernd sagen, dass jede*r Fotograf*in aus dem Ausland einen kolonialistischen Blick auf andere Kulturen hat!

Außerdem kommt es ja auch darauf an, was die Kund*innen erwarten. Vielen ist z.B. eine langjährige Zusammenarbeit mit Fotograf*innen wichtig, da sie sich dann auf deren Qualität, Arbeitsweise, Bildsprache etc. verlassen können.

Du bist bei womenphotographer.com, einer Plattform speziell für Fotografinnen weltweit, gelistet, warum?

Für mich lebt die Gruppe überwiegend vom Austausch und den offenen Diskussionen in der Facebook Gruppe. Im Alltag arbeiten wir doch meist alleine und haben selten Kolleg*innen um uns, mit denen wir uns besprechen können. In der Gruppe bekommt man auf viele Fragen binnen kürzester Zeit eine hilfreiche Antwort. Das bezieht sich auf Honorarfragen oder technische Dinge. Aber auch auf Erlebnisse in der Industrie, z.B. in Bezug auf die #Metoo-Debatte. Womenphotographer ist für mich zu einer wertvollen Diskussionsplattform geworden.

Liebe Lena, besten Dank für das Gespräch.

 

INFO

Lena Mucha ist freie Fotografin und lebt in Berlin und Kolumbien. Nach ihrem Studium der Ethnologie, Politik und lateinamerikanischer Geschichte in Köln begann sie 2011, während ihrer Tätigkeit für verschiedene NGOs in Kolumbien, zu fotografieren. Lena Muchas Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf sozialkritische Themen, wie Menschenrechte, Gender-Aspekte und soziale Veränderungen in Gesellschaften und ethnischen Gruppen, die überwiegend unterrepräsentiert sind. Ihre Arbeiten erschienen unter anderem in Geo, National Geographic, New York Times, Spiegel, Washington Post und Zeit Online, außerdem ist sie für internationale Organisationen, wie Ärzte ohne Grenzen, Internationales Komitee vom Roten Kreuz, Internationale Friedensbrigaden u.a. tätig.

www.lenamucha.com


Andreas Herzau 
setzt sich als Fotograf, Hochschuldozent und Autor künstlerisch, theoretisch und angewandt mit Fotografie auseinander. Als dokumentarisch arbeitender Fotokünstler mit eigenständiger und oft überraschender Bildsprache erweitert er in seinen Arbeiten die Grenzen der klassischen Reportagefotografie, durchbricht Sehgewohnheiten und hinterfragt damit nicht zuletzt soziale Wahrnehmungs-Stereotype. Essayistisch-narrative und analytisch-abstrahierende Elemente werden in Herzaus intensiven Fotos zu dichten Bildgeschichten verknüpft, die er in Buchprojekten, Ausstellungen und Zeitschriften veröffentlicht. Neben seiner künstlerischen Arbeit am Bild publiziert er Texte und Essays über Fotografie.

www.andreasherzau.de