Kriegs-, Krisen- & Konfliktfotografie
Schwerpunktthema

»Ich möchte sehen, wie die Welt zu einem besseren Ort wird«

Als viele noch die Augen davor verschlossen, was die digitale Revolution mit der Fotografie machen würde, entwickelte Fred Ritchin bereits richtungsweisende Projekte mit der neuen Technologie, wie etwa die Webseite pixelpress.org. Gleichzeitig prägte er mit seinen Büchern »After Photography« (2008) oder »Bending the frame« (2013) den Diskurs über den Zustand des Fotojournalismus und schuf mit dem »Four Corners Project« eine Plattform für mehr Glaubwürdigkeit in den visuellen Medien. Felix Koltermann sprach mit ihm über die Zukunft der Kriegsfotografie zwischen Aktivismus, Citizen Journalism und digitalem Erzählen.
Interview – Felix Koltermann

Felix Koltermann: Im Jahr 1996 haben Sie zusammen mit Gilles Peress »Bosnia: Uncertain Paths to Peace« produziert, eines der ersten Projekte, die mit Hypertext gearbeitet haben. Inwiefern wollten Sie damals die Kriegs- und Konfliktberichterstattung herausfordern?

Fred Ritchin: Zu der Zeit war ich Bildredakteur des »The New York Times Magazine« und bin auf die »New York Times on the web« zugegangen und sagte: »Wir haben bisher immer nur Krieg gezeigt, lasst uns mal was zum Frieden machen«. Ich war schon länger an proaktiver statt reaktiver Fotografie interessiert, also einer Fotografie, die im Vorhinein sowie im Prozess des Friedenmachens hilfreich sein kann, anstatt auf drastische Bilder produzierende Apokalypse zu warten. Die Grundidee war, Fotografien eher als Fragen denn als Antworten zu nutzen. Wir wollten auch die Community miteinbeziehen, weil Menschen aus der Region, Menschen, die die Region kennen, Insiderwissen haben können, das sie teilen wollen. In dieser Hinsicht war das Projekt eine frühe Version von Crowdsourcing, eine Art Citizen Journalism in dem Sinne, dass Menschen sich die Bilder angucken und auf ihre Weise darauf reagieren konnten. Wir wollten einfach nicht so tun, als wäre der Fotograf die ultimative Autorität. Das Ergebnis wurde von anderen auch als eine Konversation bezeichnet, bei der der Fotograf nur noch der prominenteste Teilnehmer ist.

Für mich als Bildredakteur bedeutete das, nicht einfach nur die besten Bilder aussuchen zu können, sondern stattdessen mit dem Fotografen über einen längeren Zeitraum zu arbeiten, um verschiedene Bedeutungen herauszuarbeiten. Eine andere Herausforderung war, wie wir es schaffen, dass die Leser sich bis zu einem gewissen Grad in dem Projekt verlieren – aber ohne dabei den Überblick zu verlieren. Wir folgten damit Roland Barthes Idee, dass der Leser ein aktiver Teilnehmer bei der Bedeutungszuschreibung sein soll, also die Bedeutung nicht Top-Down festgelegt, sondern gemeinsam entwickelt wird. Das Ergebnis war zwischen First-Person und Third-Person-Journalism angesiedelt, mit einem starken Anteil von Second-Person-Journalism, da wir »uns« mit einbezogen haben. Bis heute hält sich leider der Third-Person-Journalism, der alte Broadcast-Style-Berichterstattungstyp des Fotojournalismus, bei dem uns ein Experte erklärt, was gerade passiert. Was natürlich Quatsch ist, da nur sehr wenige Fotojournalist*innen Expert*innen für all die Situationen sind, über die sie berichten. Das zu erwarten wäre unrealistisch. Wir wollten 1996 zeigen, dass es viele Wege gibt, Journalismus neu zu denken.

Heute, über 20 Jahre später, haben wir die Krise der Fake News. Wo sehen Sie die Rolle des Fotojournalismus in dieser Debatte?

Ich denke, dass sich der Fotojournalismus neu erfinden muss. Ich glaube nicht, dass er irgendeinen Anspruch auf die absolute Wahrheit hat: Er ist eine Meinung, eine Interpretation, ist subjektiv und ein Zitat des Geschehenen. Und nochmal, man muss Wissen über das haben, was man fotografiert. Man kann nicht einfach irgendwo hingeschickt werden und Bilder machen. Wir brauchen viel mehr Kontext für die Bilder. Fotograf*innen sollen nicht einfach ein Bild schießen, sie müssen zu Bildautor*innen werden. Fast immer, wenn wir über Fotojournalismus reden, geht es leider um eine Idee des 20. Jahrhunderts. Wir reden nicht über eine breitere Vision eines visuellen Journalismus aus dem 21. Jahrhundert, die Virtual Reality, Augmented Reality, Datenvisualisierungen, Sound und Image sowie First-Person, Second-Person und Third-Person mit einbezieht. Eben alles was hilft, das Standbild zu stärken. Der Fotojournalismus ist möglicherweise das einzige Feld, wo jemand mit dem Stil von 1930 heute noch einen Preis gewinnen kann.

Seit vielen Jahren tritt Fred Ritchin für einen Fotojournalismus ein, der sich den Realitäten des 21. Jahrhunderts stellt und sich angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung neu erfindet. Foto: Michael Braunschädel/HS Hannover

In dem, was sie gerade über die Zukunft des Fotojournalismus skizziert haben, was ist da die Rolle der Bildredakteur*innen?

Die Bildredakteur*innen sind entscheidender als je zuvor, da sie abertausende Bilder bekommen und schnelle Entscheidungen treffen müssen. Viele im Feld ersetzen Quantität durch Qualität: Sie hauen einfach eine große Anzahl Bilder raus, damit der Bildschirm sich immer wieder updated. Oder es sind Praktikant*innen, die die Bilder auswählen. Aber vielleicht wird schon bald eine künstliche Intelligenz die Bilder auswählen. Als ich Bildredakteur war, habe ich mich immer gefragt, ob ich genug über die Situation weiß, um ein Bild auszuwählen und deswegen bei den Fotograf*innen nachgehört: »Was passiert da gerade wirklich? Warum ist dieses Bild wichtig? Was ist der Hintergrund?«. Die Bedeutung von Bildern herauszuarbeiten ist eine Kollaboration zwischen Fotograf*in, Redakteur*in und Leser*in, aber auch den Subjekten und der benutzten Technologie. Es ist einfach kein Top-Down Prozess, in dem ich entscheide, was das beste Bild ist, weil ich gar nicht wissen kann, welches das ist.

Das von ihnen angesprochene Wissensproblem ist besonders bei der Kriegs- und Krisenberichterstattung relevant, wenn Journalist*innen aus dem Westen über Krisen im Rest der Welt berichten. Wie sollten wir mit diesem Problem umgehen?

Der erste Punkt ist, zu verstehen, welche unsichtbaren Systeme Konflikten zu Grunde liegen und was diese auslöst. Es geht nicht darum zu zeigen, dass Menschen erschossen werden, sondern was den Konflikt ausgelöst hat. Das größte Problem ist, dass wir immer und immer wieder die gleichen Bilder zeigen. Dabei gehen die Unterschiede verloren und alle Kriege werden plötzlich eins. Aber das sind sie natürlich nicht, es ist an jedem Ort anders. Ich wünsche mir mehr Proaktivität und Menschen, die sagen: »Wir haben ein Problem in diesem Land und müssen darauf schauen, bevor es zu einem großen Konflikt und gewalttätig wird«. Es ist kein Film, bei dem wir warten, dass er gleich losgeht. Darüber hinaus müssen wir verstehen, dass die involvierten Subjekte oft sehr gut wissen, wie man die Medien manipuliert: Seien es Regierungen, die sich selbst zeigen oder Terrorgruppen. Ich habe den Eindruck, dass sie die öffentliche Diskussion oft sehr viel stärker beeinflussen als der Fotojournalismus.

Ich erinnere mich an eine Friedenskonferenz über den Nahen Osten vor vielen Jahren mit Palästinensern, Israelis, Jordaniern, Amerikanern und so weiter. Es war draußen in der Wüste und sie haben eine halbe Million Dollar für Klimaanlagen ausgegeben, damit die Leute nicht so schwitzen. Ich habe mich gefragt, warum die Fotograf*innen nicht die Klimaanlagen gezeigt haben. Man hätte eine halbe Million sparen und dafür Schulen bauen können. Aber Fotograf*innen denken nicht so. Es ist mir unverständlich, dass Fotograf*innen sich als Kopist*innen sehen, wie es Charles Baudelaire formuliert hat, die nur aufzeichnen, was ihnen gesagt wird. Darum geht es nicht. Man muss interpretieren, was passiert und seinen eigenen Standpunkt zeigen, damit der Leser die Dinge anders verstehen kann – man darf sich mit der eigenen Rolle nicht denen mit der Macht unterwerfen.

Ist Citizen Journalism für Sie eine valide Antwort auf diese Krise der Repräsentation und ein neuer Weg, mit Krieg und Konflikt umzugehen?

Alles was gut verwendet wird, kann hilfreich sein. Das Problem ist die Produktion Tausender oder gar Millionen von Bildern, die sich niemand mehr anschaut. Jede*r Fotojournalist*in weiß, dass man eine Situation in einem positiven oder einem negativen Licht zeigen kann. Amateur*innen wissen das genauso gut wie Profis. Aber natürlich muss das Material kuratiert werden. Die Fotografien müssen mit einem Sinn für Verantwortung bearbeitet werden, so als würde man einen Text schreiben. Nochmal: Ich würde immer Menschen vor Ort die Möglichkeit geben, ihre eigenen sozialen Medien zu kuratieren und zu sagen »Wir sind aus Beirut. Hier ist ein Generalstreik und das sind die wichtigsten Bilder auf Social Media, auf die ihr schauen solltet. Wir brauchen niemanden von außen, der uns sagt, was mir machen sollen. Wir können dies selbst tun«. Man könnte etwa Student*innen gewinnen um Social Media zu kuratieren und kostenlos anzubieten. Aber es gibt da eben einen konzeptionellen Unterschied: Es bedeutet zu sagen, ja, Citizen Journalism ist wichtig, wenn er intelligent ist und auf eine Weise kuratiert ist, die Sinn macht. Ich lerne extrem viel von meinen Studierenden aus vielen verschiedenen Ländern, wie ihr Leben aussieht, wenn sie ihre eigenen sozialen Medien kuratieren. Ich hatte z.B. einen chinesischen Studenten, der uns einfach Bilder von Menschen aus der Mittelklasse gezeigt hat, die auf der Straße Händchen halten. Warum war das wichtig? Weil sie inmitten einer Straße standen und den Verkehr aufhielten so dass ihre Kinder, die nebenan einen Aufnahmetest für die Universität schrieben, Ruhe hatten.

Wenn wir über Amateur*innen sprechen, die Inhalte auf Social Media kuratieren, kommen auch die Plattformen ins Spiel. Wie gehen wir mit der Macht dieser Institutionen um?

Wir müssen unsere eigenen bauen! Wir können das und es kostet gar nicht mal so viel Geld. Mit Pixelpress haben wir genau das gemacht. Wir haben alle möglichen Projekte in dieser Richtung gemacht. Oft kamen dann die Mainstream-Medien zu uns, weil sie sowas nicht machen konnten und haben unsere Inhalte vernetzt. Aber es muss den Willen geben, das zu tun. Es braucht eine Vision, ein Gefühl von Widerstand gegen den Status Quo. Es ist nicht nur ein Problem von Facebook, es ist unser Problem. Klar wünschen wir uns alle, dass Facebook besser wäre, aber wir haben Schwierigkeiten damit, sie zu zwingen, besser zu werden. Wir können nicht nur rumsitzen und uns darüber beklagen. Als ich jung war, habe ich mich immer darüber beschwert, dass die Medien nicht die richtigen Bilder publiziert haben. Aber jetzt machen wir unsere eigene Revolution. Heute kann jeder seine eigene Publikation machen oder sich zusammentun, um eine zu entwickeln, wir machen es nur nicht. Aber warum nicht?

In Ihrer langen Karriere waren Sie in einige Programme zu Fotografie und Menschenrechten involviert. Wo besteht für Sie die Beziehung zwischen den beiden Feldern?

Es gab einmal das Gefühl, dass wenn man Augenzeug*in eines Ereignisses war und die Bilder in einer Zeitung oder einem Magazin veröffentlichte, Regierungen und Bürger möglicherweise darauf reagieren und etwas ändern. Wenn jemand im Vietnamkrieg das vor dem Napalm fliehende Mädchen fotografierte, dann würde das Demonstrationen und vielleicht auch einen Truppenabzug zur Folge haben – was damals tatsächlich passierte. Das Gefühl war, dass die Arbeit eine Wirkung hatte. Aber mit der abnehmenden Bedeutung der Cover unserer Printpublikationen sind wir an einem völlig anderen Punkt. Die Bilder sind klein, sie kommen und gehen und haben nicht mehr den Status als Referenzpunkt in der Gesellschaft. Wenn ich heute auf Instagram ein Bild im Bruchteil einer Sekunde wegwischen kann, dann hat das von Napalm getroffene Mädchen keine Wirkung mehr – es wird zu einer obszönen Art des Publizierens, wenn dieser Schmerz und dieser Horror direkt weggeworfen werden kann, als wäre es ein Konsumgut. Wir können nicht mehr auf Regierungen und Leser*innen vertrauen, dass die der Fotografie glauben, auf sie reagieren und daraus etwas Positives machen. Ich suche ständig nach alternativen Strategien auf lokaler und internationaler Ebene, die funktioniert haben. Ich möchte sehen, wie die Welt zu einem besseren Ort wird, anstatt einfach nur mehr Bilder zu machen, die anregen sollen und dann doch weggeworfen werden.

In dem Projekt »Solidarity, Not Charity« begleitete Manca Juvan Ehrenamtliche, die sich 2015 in Slowenien für syrische und afghanische Geflüchtete einsetzen. Die Arbeit ist Teil der Reihe »What works« und zeigt, was die einzelnen Menschen dazu bewegt, zu helfen – ganz entgegen dem soziopolitischen Klima in ihrem Land. Video: Manca Juvan

Einer der Autoren unseres Schwerpunktthemas »Kriegs-, Krisen- und Konfliktfotografie«, Frank Möller, hat im Sommer für eine Friedensfotografie plädiert. Was verstehen Sie unter Friedensfotografie?

Zuallererst ist diese proaktiv. Und es ist nicht nur eine Antwort auf den Krieg. Was wir brauchen sind Preise für Friedensfotografie, nicht immer nur Kriegsfotografie. Wir müssen anders über das nachdenken, was wir tun. In der Fotojournalismus-Community fehlt es wirklich an Diskussionen darüber. Stattdessen sind wir frustriert und wütend darüber, dass die Dinge nicht mehr so sind wie sie einmal waren. Aber warum sollten sie es sein? Robert Capa sagte in den 1920er Jahren, wenn deine Bilder nicht gut genug sind, dann bist du nicht nah genug dran. Aber das ist lange her. Es könnte sein, dass wenn heute deine Bilder nicht gut genug sind, du nicht weit genug weg bist, nicht genug Distanz und Perspektive auf das hast, was gerade passiert. Es geht nicht nur um Symptome, sondern um die darunterliegenden Ursachen. Wie z.B. beim Klimawandel: Ich will keine Bilder der Apokalypse von zu viel CO2 in der Atmosphäre. Ich will eine Welt sehen, in der Menschen und Tiere den Klimawandel überleben und Lösungen gezeigt werden, egal wie klein oder partiell diese sind. Mit ehemaligen Studierenden habe ich als Teil des von mir und Susan Meiselas gegründeten »Photography and Social Justice Program« das Projekt »What works« gemacht. Wir haben gefragt »Angesichts der schrecklichen sektiererischen Gewalt, die wir gerade erleben, was funktioniert gut in deinem Land als Alternative zur Gewalt? Was kann ich aus Bangladesch lernen, was von den Philippinen? Oder woanders?«

Ist das, was Sie gerade dargelegt haben, was Sie heute unter Concerned Photography verstehen würden?

Ich würde sagen, das es darüber hinausgeht. Alle Fotograf*innen sind auf die eine oder andere Weise besorgt. Es ist hart, Fotograf*innen zu finden die das nicht sind. Wir sind alle über irgendwas betroffen aber wir müssen so effektiv wie möglich sein beim Ausdrücken unserer Anliegen. Ich moderiere oft Diskussionen und frage dabei immer Fotograf*innen, was die Wirkung ihrer Arbeit sei. Allzuoft antworten sie »Da habe ich noch nie drüber nachgedacht«. Wenn ich zu einem Arzt gehe und es nicht besser wird, muss er ja auch über die Wirkung der Behandlung nachdenken. Auch bei Sozialarbeiter*innen ist das der Fall. Fotograf*innen können nicht sagen »Ich bin ein netter Mensch, also mache ich Bilder«. Was ist die Wirkung? Hilft deine Arbeit oder ist sie einfach Teil der überwältigenden Masse an Bildern und trägt zur Verwirrung bei? Insofern geht es für mich über Concerned Photography hinaus. Es geht darum, strategisch zu sein und zu verstehen, was passiert und nicht einfach Bilder davon zu machen, was man interessant findet. Man kann nicht einfach nur Fotografie studieren, man muss andere Sprachen sprechen, politische Systeme verstehen und etwas über Geschichte, Wirtschaft und andere Kulturen wissen. Man muss einfach sehr viel mehr wissen, als was ein »gutes« Bild ausmacht, was auch immer das ist. Es geht nicht darum, Bilder zu schießen, man muss Bilder sehr viel stärker kollaborativ produzieren. Ich halte meine Studierenden dazu an, interaktive Porträts zu machen. Dabei nutzen sie die digitale Kamera, um die Subjekte dazu anzuhalten, sich die Bilder anzuschauen und darüber zu sprechen, inwieweit das Porträt sie so darstellt, wie sie sich sehen. Das gibt dem Subjekt eine Handlungsmöglichkeit, egal ob es arm oder reich ist. Die Leser*innen können dann ein Icon anklicken und die Stimme der Porträtierten hören, die auf das Bild reagieren, oder auch einfach nur das Bild anschauen. Professionals haben zu mir gesagt, dass würde ihnen Macht wegnehmen. Ich denke, es vergrößert sie.

Im Video »The Killing of Rouzan al-Najjar« zeichnet die Gruppe »Forensic Architecture« minutiös nach, wie sie mithilfe unterschiedlicher Bildmaterialien und deren 3D-Modellierung die Vorgänge rekonstruieren konnten, die zum Tod der palästinensischen Sanitäterin führten. Video: Forensic Architecture (FA)

Ein anderes Konzept, über das ich mit Ihnen sprechen wollte, ist Forensic Photography. Insbesondere aufgrund des Projektes Forensic Architecture von Eyal Weizman hat es einige Bekanntheit erlangt. Was denken Sie darüber?

Es gibt verschiedene Gruppen, die sich mit Forensic Photography beschäftigen, darunter auch die »New York Times«. Für mich gehört sie zu den wichtigsten Entwicklungen unserer Zeit. Und es gibt einige Fälle, bei denen sie Dinge nachweisen konnten, Dinge erklären konnten, die vorher unklar waren. In New York etwa gab es den Fall eines erstochenen Jugendlichen. Die Polizei konnte ihn nicht aufklären, aber die Forensics Gruppe der »New York Times« schaffte es. Ein anderer interessanter Fall aus Israel/Palästina dreht sich um eine getötete Sanitäterin aus dem Gazastreifen. Die Analyst*innen von Forensic Architecture fanden durch die Analyse verschiedensten Bildmaterials heraus, dass der Schuss, der sie tötete, auf jemand anderen gerichtet war, die Kugel aber vom Boden abprallte und sie dann traf. Sie war also nicht das eigentliche Ziel. Es heißt über die israelische Armee, dass sie aufgrund dieser Untersuchung ihre Richtlinien des Gebrauchs von scharfer Munition geändert habe. Ich denke, dass eine vorsichtige Untersuchung außerordentlich wichtig ist. Es braucht nur extrem viele Ressourcen, das Material von Dutzenden von Handykameras der gleichen Situation auszuwerten. Aber es ist fanstatische Arbeit.

Gibt es noch etwas anderes, von dem Sie denken, dass es relevant ist, wenn wir über die Zukunft von Kriegs- und Konfliktberichterstattung sprechen?

Worüber so gut wie niemand spricht, ist künstliche Intelligenz. Vor allem der Fakt, dass neuronale Netzwerke Bilder schaffen können, die wie Fotografien aussehen, aber an denen nichts Reales ist. Damit einher geht das Problem von Deep Fakes. Wir haben in den USA einen Deep Fake von Präsident Obama bei dem dieser eine Rede hält, die er nie gehalten hat. Theoretisch kann es Präsident*innen geben, die einen Krieg erklären, ohne dass wir wissen, ob sie dies tatsächlich getan haben. Oder es gibt Prominente, die in Pornofilme gesetzt werden, an denen sie nie teilgenommen haben. Die Frage ist, was die Grenze zwischen dem Realen und der Fiktion ist und wie wir proaktiv damit umgehen. Einige denken darüber nach, Blockchain zu nutzen, um zu zeigen, ob Fotografien manipuliert wurden oder nicht. Aber zu den Problemen gehört, dass viele Fotografien bereits manipuliert sind auch wenn keine Pixel verändert wurden. Wie gehen wir mit alle dem um, bevor wir noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren? Können die Demokratien so weiter funktionieren, wenn die Medien so kompromitiert sind?

Eine andere Sache, die mich umtreibt, ist, Konflikte anders zu definieren. Wenn Menschen nichts zu essen haben, wenn es Hungersnöte gibt, der Klimawandel fortschreitet und Länder verschwinden, weil der Wasserspiegel steigt, dann sind die Menschen in Konflikten. Diese Menschen sind im Konflikt mit der Natur und mit den reichen Gesellschaften, die Ressourcen verschwenden. Sie sind im Konflikt mit lokalen und internationalen Machtstrukturen. Diese Konflikte passieren überall und immer wieder. Wir sollten uns Konflikte nicht als Film oder Sportevent vorstellen, wo ein Team schießt und das andere zurückballert. Etwas anderes passiert und wir müssen fragen, wer verantwortlich ist und wie wir das Schlimmste verhindern können. Zugespitzt gesagt, wenn ich ein Auto fahre, das viel Benzin verbraucht, verschwindet die Insel von anderen Leuten. Auch wenn dies vielleicht ein extremes Beispiel ist, zeigt es aber, dass es da eine Verbindung gibt. Konfliktfotografie zeigt normalerweise nur die Symptome der tieferliegenden Probleme. Aber der Blick auf die Symptome reicht nicht mehr, er muss zukünftig tiefer gehen.

Wäre ein interdisziplinärer Ansatz, bei dem z.B. Journalist*innen und Konfliktforscher*innen zusammenarbeiten, eine Option für Sie, um diesem Problem zu begegnen und andere Lösungen zu finden?

Definitiv. Es ist wie bei einem Filmemacher, da gibt es auch eine Crew, die zusammen lange Zeit recherchiert. Und wenn ich Bücher schreibe, dann braucht das Jahre, weil ich sehr viel recherchiere und darüber reflektiere. Ich erwarte nicht, alles schon nach einem Tag oder einer Woche zu wissen, auch wenn ich schon Jahrzehnte in diesem Feld bin. Man muss immer weiter Fragen stellen und mit vielen Menschen sprechen. Wenn wir etwa mehr über die Kultur in Syrien wüssten, hätten wir mehr Sympathie für die Menschen dort, wären besser fähig, uns mit ihnen als Bürger dieses Planeten zu identifizieren, auf dem wir alle leben. Vielleicht wäre dann angesichts der unglaublichen Gewalt, die sie für viele Jahre erfahren haben, mehr passiert, um zu helfen.

Als Leser lerne ich extrem viel über verschiedene Fußballprofis. Ich weiß viel über Prominente, darüber, welche Produkte ich kaufen soll. Ich wünschte mir einfach nur, dass wir mehr über die große Welt wissen würden, in der wir leben. Ich hätte mir gewünscht, dass wir nicht so nach innen gerichtet und tribalistisch werden und dass die digitale Revolution hilfreicher dabei gewesen wäre, uns zusammenzuführen, anstatt die enormen Brüche zu vertiefen, die wir in so vielen Gesellschaften vorfinden. Es bleibt also immer noch viel zu tun. Die Herausforderungen sind enorm. Und die Fotografie aus dem 20. Jahrhundert reicht dafür nicht mehr aus.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

INFO

Fred Ritchin ist Fototheoretiker und war Professor für Fotografie an der New York University. Lange Jahre arbeitete er als Bildredakteur für das »The New York Times Magazine«. Am International Center of Photography (ICP) in New York gründete er das Programm für Dokumentarfotografie und Fotojournalismus. Ab 2014 war er Dekan der Fotoausbildung am ICP. Er ist Autor zahlreicher Bücher über (digitale) Fotografie.

Foto: Ports Bishop


Felix Koltermann ist promovierter Kommunikationswissenschaftler und arbeitet zu den Themen internationaler Fotojournalismus, visuelle Medienkompetenz und zeitgenössisches Fotobuch. Zuletzt hat er das Buch »Fotoreporter im Konflikt – Der internationale Fotojournalismus in Israel/Palästina« beim Verlag Transcript publiziert. Er betreibt den Blog »Fotografie und Konflikt« und ist als freier Journalist unter anderem für die Zeitschrift Photonews tätig. Auf Twitter und Instagram ist er unter @fkoltermann zu finden.