Kriegs-, Krisen- & Konfliktfotografie
Interview mit Andrea Künzig

Bilder für ein tiefes Verstehen

Sie ist eine der wenigen deutschen Fotografinnen, die Anfang der neunziger Jahre selbständig und aus eigener Überzeugung loszog, um in Kriegs- und Krisengebieten das Zeitgeschehen zu dokumentieren. Mit ihrer Kamera hielt Andrea Künzig die politischen Entwicklungen des Nahostkonfliktes fest, blieb auch dann, wenn die Krisen wieder von den Titelseiten verschwanden. Ihre Aufträge für Zeitschriften und Hilfsorganisationen und auch ihre freien Arbeiten zeigen, wie Künzig mit respektvollen Bildern die Klischees der Konfliktberichterstattung widerlegt. Im Rahmen unseres Schwerpunkts »Kriegs-, Krisen- und Konfliktfotografie« sprach Cale Garrido mit ihr darüber, wie Auslandsaufenthalte ihr fotografisches Werk geprägt haben und wie viel intensive Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft dem Entstehen ihrer Bilder vorangeht.
Fotos – Andrea Künzig

Cale Garrido: Andrea, du bist nach deinem Studium der Politikwissenschaften auf das Medium Fotografie gekommen. Wie hat sich das ergeben?

Andrea Künzig: Im Rahmen meines Studiums an der Freien Universität Berlin war ich im Gazastreifen, auf den Golanhöhen und in Jordanien auf Recherche. Auch in den Flüchtlingslagern, das war noch in den Neunzigern. Während der Studienreisen und Stipendienaufenthalten interessierte ich mich für Lösungsmöglichkeiten des Nahostkonflikts. Es gab mehr und mehr Situationen in denen ich mich gefragt habe, wie ich das, was passiert, festhalten kann. Zurück in Deutschland, nachdem Ministerpräsident Yitzchak Rabin und der damalige Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde Jassir Arafat sich 1994 die Hand gegeben haben, wollte ich diese neue Entwicklung dokumentieren. Ich habe eine Nachrichtenagentur gefunden, Reuters, die mich zwar nicht gleich losgeschickt hat, wo ich aber ein Praktikum machen konnte. Dennoch wollte ich los, zog nach Jerusalem und habe dort jeden Tag fotografiert. Ein paar Wochen danach habe ich mit dem Fotomaterial Redaktionen in Hamburg und München besucht. Ich arbeitete fortan unter anderem für »Die Zeit« und den »Focus«. Später kamen internationale Zeitungen, Zeitschriften und Hilfsorganisationen hinzu.

Wie hast du dein fotografisches Auge trainiert? Wer hat dich visuell und in deiner Art Geschichten zu erzählen beeinflusst?

Für mich ging es immer an erster Stelle um das Thema. Meine Motivation waren Menschenrechte und Gerechtigkeit. Ich bin eher Praktikerin und eigne mir die Techniken durch »Learning by doing« an. Anfangs habe ich mich auch mit anderen Fotograf*innen vor Ort ausgetauscht und arbeitete außerdem mit einem Fotoladen in der Altstadt von Jerusalem zusammen. Wir reden von der Zeit, in der man auf Negativen Fotografien aussuchte und dann entwickelte. Erst viel später habe ich mich mit Magnum-Fotografen auseinandergesetzt, Fotobücher gekauft, angeschaut und gelesen, zum Beispiel von Inge Morath, Gil Perez, Sebastião Salgado, Susan Meiselas oder Margaret Bourke-White. Das waren die Anfänge. Erst 2001 bis 2004 besuchte ich die Fachklasse bei Arno Fischer in der Schule »Fotografie am Schiffbauerdamm«.

»Die jungen Frauen und Mädchen habe ich 2004 im ›Fistula-Hospital‹ in Addis Abeba, Äthiopien fotografiert, in dem die Ärztin Catherine Hamlin kostenlos operierte. Jefere (21) saß dort, eingehüllt in einer Strickdecke und litt unter starken Schmerzen. Sie hatte ihre Operation noch vor sich. Weil viele Mädchen oft schon im Kindesalter viel zu früh verheiratet werden, gibt es meistens Komplikationen bei der Geburt oder es kommt zu Totgeburten. Die Gebärmutter der jungen Frauen ist noch zu klein, manche sind auch genital verstümmelt. Die Reportage entstand zusammen mit der Journalistin Angelika Gardiner. Für diese Geschichte erhielten wir 2009 den Deutschen Journalistenpreis zum Thema Entwicklung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung aus Berlin.«

Du bist von Anfang an sehr selbstbewusst aufgetreten und hast dich einer Branche gegenüber präsentiert, die damals schon eine männerdominierte war. Hat dein Frau-Sein eine große Rolle gespielt, wenn du unterwegs warst?

Ich selber wusste nicht, was Angst heißt und dementsprechend bin ich auch so aufgetreten. Für mich spielte es keine Rolle, ob Fotograf oder Fotografin. Wichtig war, dass ich es ernst meinte und das Leben der Menschen dokumentieren wollte. Mich hier und da an bestimmte muslimische Verhaltensregeln anzupassen, oder mal ein Kopftuch aufzusetzen, aus Respekt für die Glaubensgemeinschaft, war kein Problem.

Ich glaube, dass die Branche damals durchaus konservativ war, doch ich wurde von den Redakteur*innen mit Respekt behandelt. Es gab wenig deutsche Fotografinnen, die in Krisengebieten unterwegs waren. Später war ich mit sehr guten Autorinnen unterwegs. Wir haben »Frauenthemen« gewählt, weil sie uns interessiert haben und oft auch neu in unserer Gesellschaft waren. Das hat uns gegenseitig als Team gestärkt. Die Agentur laif kann ich nicht unerwähnt lassen, denn Fotografinnen und Fotografen waren hier von Anfang an gleichgestellt.

Oft haben dich, wie du gerade erwähnt hast, Geschichten interessiert, bei denen die Frauen im Fokus standen. Warum?

Einerseits hat es einfach damit zu tun, dass ich selber eine Frau bin. Andererseits aber auch mit den Situationen, die ich erlebt habe oder mit den Themen, über die ich gelesen oder recherchiert hatte. Beim Thema Beschneidung von Frauen oder bestimmten medizinischen Themen fragte ich mich immer, warum das so sein muss, warum es nicht verboten werden kann. Auf jeden Fall gab es damals noch nicht viele Information darüber. Ich bin von diesen Geschichten immer tief berührt gewesen. Es war auch ein Drang in mir, Situationen zu verbessern.

»Der Tsunami am 26. Dezember 2004, ausgelöst durch ein Seebeben in Sri Lanka, war ein paar Wochen her, als ich die 75-jährige Moratuwa in ihrem zerstörten Haus fotografierte. Ich lief entlang des Meeres und war ohne Stringer unterwegs, als ich sie allein auf ihrem Stuhl dort sitzen sah«, erinnert sich Andrea Künzig. »Mir ist in Erinnerung geblieben, dass sie nicht gehen wollte, trotz der Aufforderung der Regierung, hundert Meter weiter neue Häuser zu bauen. Eine Hilfsorganisation hatte mich gebucht, vor dem Abflug aber den Auftrag zurückgezogen, nachdem ein Frankfurter Journalist aufgedeckt hatte, dass für ein Auffanglager gespendet worden war, in dem sich niemand aufhielt. Ich flog trotzdem, denn ich wollte etwas tun. Viele Fotografen waren vor Ort, ich bekam dennoch Aufträge, unter anderem vom ›TIME Magazine‹. Meinen Glauben an die uneingeschränkte Seriosität selbst großer Hilfsorganisationen habe ich damals verloren.«

Viele Fotografinnen, die in der Welt unterwegs sind, produzieren weniger Nachrichtenbilder, konzentrieren sich deutlich mehr auf Langzeitprojekte oder Porträts. Können diese Art von Projekten mehr berühren?

Grundsätzlich ist die Zeit ein wesentlicher Faktor. Nachrichtenbilder sind schnell, aber es wäre nicht gerecht zu sagen, dass sie weniger berühren. Auch hier hat sich die Branche geändert. Wenn ich bei einem Thema in die Tiefe gehe, kann ich auch vielschichtigere Bilder machen. Mir geht es um umfassendere Geschichten, da wir auch insgesamt politisch komplexere Situationen vorfinden.

Du lebst den Alltag anderer Menschen mit, dokumentierst den. Wie erinnerst du deinen eigenen Alltag vor Ort, als du etwa im Auftrag von Geo monatelang in einem Dorf in Kenia warst?

Das Kenia-Projekt ging über einen Zeitraum von 20 Jahren! Ich habe eine bestimmte Verantwortung übernommen, kommunizierte viel mit den Menschen und war Gast. Auch wenn ich beim Fotografieren am liebsten unsichtbar sein möchte, fällt man eigentlich permanent auf als Weiße. Das heißt wiederum, ich muss als Fotografin behutsam vorgehen, Respekt gegenüber den Menschen zeigen und mich anpassen an die jeweiligen Situationen. Mal die Kamera weglegen und eintauchen, auch um Vertrauen aufzubauen. In abgeschiedenen Orten ohne Elektrizität zu leben, hat auch mich immer vor Herausforderungen gestellt. Mir wurde bewusst, wie kostbar Wasser ist, wenn es erst gesucht und dann in Kanistern von irgendwoher herangeschleppt werden muss. Es gab anfangs noch keine keine Mobiltelefone oder »Social Media«. Man redete einfach mehr miteinander. Ich musste mich auf den Straßen immer wieder neu vorstellen. Erzählen, was ich hier mache… Erst nach einer Weile kennen die Menschen einen. Wenn ich jemanden getroffen habe, bin ich nicht einfach vorbeigelaufen, es wurden immer drei oder vier Sätze gesprochen, auch wenn es nur um das Wetter ging. Ich liebe diese Interaktion mit den Menschen, mich auseinanderzusetzen, sonst könnte ich den Job nicht machen.

»Wie in den meisten Familien Kenias, die in ländlichen Regionen leben, kocht auch Susanna M. (44) aus dem Dorf Musalala mit Feuerholz. Es dauerte immer lange, bis sie genügend Holz gesammelt hatte. Ich war 2008 in der Nähe, und habe sie beim Sammeln des Feuerholzes einen Berg hinunterlaufen sehen.«
»Um Wasser zu finden, kletterte der Junge aus dem kenianischen Dorf Musalala auch in die allerengsten Felslücken hinein. Nach der Trockenzeit waren die Flüsse vollkommen ausgetrocknet. Ich begleitete den Jungen 2008, um zu sehen, wo er das Trinkwasser herbekommt.«
»Mit ansehen zu müssen, wie ein Kind nicht satt wird und hungert, ist schlimm. In dem Dorf Musalala in Kenia 1999, sah ich Kathini M. (5) die oft Hunger hatte, weil einfach nicht genug Essen da war für alle neun Geschwisterkinder. Dann ging sie in die Hüttenküche und aß, was sie finden konnte. An diesem Tag war es der Rest von etwas kaltem Maisbrei. In meiner Kameratasche hatte ich ab und an Essen dabei, nicht nur für mich...«

Frauen und Kinder sind in jeder Gesellschaft die schwächeren Gruppen. Wie erzählst du ihre Geschichten, ohne sie dem Voyeurismus auszusetzen?

Durch Verständnis und Respekt. Gerade die Reportage gegen die weibliche Beschneidung (FGM) in Kenia – die auch oft publiziert worden ist – war mir sehr wichtig. Dafür habe ich auch selbst geschrieben. Man kann es nicht pauschal aburteilen, dort sind es die ältesten Menschen, die oft etwas zu sagen haben. Ich kann nicht einfach als Europäerin dahin kommen und ihnen sagen, was sie dürfen oder nicht dürfen. Die Strategie von Hilfsorganisationen war, dass sie Frauen vor Ort unterstützt haben, die an einer Universität in Afrika studiert haben und absolut gegen Beschneidung waren. Diese Frauen haben dann vor Ort mit den älteren Männern im Rift Valley geredet und den gesellschaftlichen Austausch angestoßen. Das kann ich wiederum nur dokumentieren. Man sollte nicht nur die einheimischen Familien kennen, sondern auch die Gesellschaftsstrukturen studieren und verstehen, um so auch fotografisch richtig zu handeln. Anders geht es nicht.

Wie vermeidest du die einseitige Erzählung, die westliche Klischees wiederholt?

Vielleicht habe ich diese gar nicht, wenn ich die Gesellschaft akzeptiere und respektiere. Ich kann die Ereignisse nur so neutral wie möglich betrachten und dokumentieren, was vor Ort mit und zwischen Menschen passiert.

Wie beeinflusst dich diese Haltung bei der Auswahl deiner Fotografien?

Ich entscheide vor Ort, was ich aufnehme und lasse ganz bewusst oder unbewusst Dinge weg. Ich möchte niemanden bloßstellen. Die Würde des Menschen soll immer erhalten bleiben. Ich reflektiere also ganz schnell vor Ort, vor dem Entstehen des eigentlichen Bildes.

»Während meiner Jahre in der Türkei habe ich viel in den Straßen Istanbuls fotografiert. Ich mochte das Leben in der Metropole am Bosporus, diesem Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Religionen. Eben bis zum Beginn der Proteste um den Gezi-Park 2013. Unterwegs im Viertel Sulukule begegnete ich 2010 diesen jungen Frauen in einem Roma-Viertel, welches zum Teil schon abgerissen war. Nachdem ich spontan die Aufnahme gemacht hatte, ließ ich mir das Einverständnis der jungen Frauen geben. Das Bild habe ich mit in meinen Fotoband ›Istanbulum‹ aufgenommen.«

Du hast in Krisen- und Konfliktgebieten gearbeitet. Wie haben dich die Erfahrungen dort verändert oder beeinflusst?

Ich habe drei Jahre lang in einer Konfliktregion gelebt und über zehn Jahre in verschiedenen Konfliktregionen gearbeitet. Ich lebe gerne da, wo ich arbeite, um viel zu erfahren, um den Alltag zu erleben und um ein Gespür für den Ort zu entwickeln. Die Fotografien spiegeln nur einen Teil des Erlebten. Ich habe natürlich viel mehr gesehen. In Krisen- und Kriegsregionen zu arbeiten, ist für mich die intensivste menschliche Erfahrung. Zurück in Deutschland, empfand ich viele Dinge als Luxusprobleme. Dies hat sich dann jedoch mit der Zeit – innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte – relativiert. Wichtige und unwichtige Dinge besser trennen zu können, ist bestimmt ein Resultat. Auch wusste ich immer, wann ich aufhören wollte. Es gab Schlüsselmomente, in denen ich schnell eine wesentliche Entscheidung fällte.

Spätestens 2009 sagte ich mir, dass ich in kein Konfliktgebiet mehr gehe. Es hat bis dahin etliche gefährliche Situationen gegeben, in denen ich gedacht habe: Bis hier und nicht weiter. Ich musste gute Antennen entwickeln: Wenn etwas nicht stimmt, reagiere ich intuitiv und schnell. So manche schwierige Reportagen hätte ich nicht machen können, wenn ich nicht vorher so eine »Schule« durchlaufen hätte. Wie es mich verändert hat? Ich empfinde Dankbarkeit, dass ich das alles überlebt habe und dass ich mein Leben genießen kann.

Wie hast du die vielen extremen Situationen ausgehalten?

Man entwickelt unbewusst auch einen Schutzmechanismus. Ich habe schreckliche Geschichten gesehen und erlebt, was Menschen anderen Menschen antun können. Intuitiv fotografiere ich aber schon immer auch etwas Schönes. Egal wann, oder wo. Auch habe ich wiederholt schöne, wunderbare Dinge, Orte und Geschichten für Magazine fotografieren können. Ich habe immer einen Sinn in meiner Arbeit als Fotografin gesehen. Das ist der Antrieb. Eine große Eigenmotivation ist es auch, mit meiner Arbeit Situationen zu verbessern. Ich wollte zeigen, unter welchen Bedingungen Menschen leben müssen. Mich selbst habe ich nicht in den Mittelpunkt gestellt. Aber ich diskutierte immer mit meiner Familie und Freundinnen über die Themen. Das war gut.

»2001 habe ich im Rift Valley in Kenia diese jungen Pokot-Mädchen fotografiert. Zwischen zwölf und fünfzehn Jahren alt, hockten sie apathisch, eingehüllt in ihr gegerbtes Ziegenfell, vor einer Hütte. Mehrere Stunden zuvor hatten sie die genitale Beschneidung hinter sich gebracht – abseits des Dorfes, so verlangt es diese qualvolle Tradition«, schildert Andrea Künzig. »Ich war am Vortag im Norden Kenias angekommen, und mir war elend zu Mute, als ich die Mädchen so sitzen sah. Ich fragte die Beschneiderin, ob ich fotografieren dürfte, gab auch den Mädchen ein Zeichen und bekam eine Bestätigung.«
»Am nächsten Tag war ich froh, die vielen Mädchen und Frauen des Pokot-Stammes zu sehen, die eine alternative Zeremonie vorbereiteten – ihr Protest gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Auch ältere Menschen vom gleichen Stamm waren gekommen, die überzeugt wurden, diesen qualvollen Ritus zu beenden. Fotografiert habe ich dort im Auftrag einer Hilfsorganisation.«

Du hast sowohl für journalistische Medien als auch für Hilfsorganisationen fotografiert. Wie unterscheidet sich die Art der Berichterstattung?

Wenn ich eine Geschichte in Afrika gemacht habe, habe ich in der Regel für verschiedene Hilfsorganisationen fotografiert, weil das Geld sonst gar nicht gereicht hätte. Aber auch weil Themen in deren Fokus standen, die mich interessiert haben. Hilfsorganisation geben genaue Vorgaben, wie sie die Bilder gerne hätten. Im dokumentarischen Bereich geht es um die Situation, wie sie stattfindet; um das, was man sieht und fühlt. Die Hilfsorganisationen, mit denen ich gearbeitet habe, haben mir viel Freiheit für die Umsetzung der Themen gegeben. Sie wollten gerade diese dokumentarische, nicht verschönernde Sichtweise für ihre Kampagne. Ich habe aber auch Bedingungen gestellt, wie zum Beispiel, dass ich länger vor Ort bleiben kann. Ein Beispiel: Da ich weibliche Beschneidung (FGM) ablehne, suchte ich mir eine Organisation, die dieses Thema im Fokus hatte und bekam so von World Vision einen Auftrag dazu vor Ort im Rift Valley in Kenia.

Wie funktionieren für dich Bilder aus Krisengebieten in Kunsträumen oder Galerien?

Diese Bilder haben ausnahmslos eine Berechtigung, gezeigt zu werden – unabhängig vom Ort. Es sind dann auch Produkte, die verkauft werden können, aber es sind vor allem Abbilder realistischer Situationen. Ich ziehe allerdings vielschichtigere Fotografien aus Krisengebieten vor. In Hamburg wurden meine Bilder aus dem Nahen Osten 2004 unter dem Titel »Promised Land« in der Robert Morat Galerie ausgestellt.

Wie gehst du mit dem Verkauf dieser Bilder um? Hast du das Bedürfnis zu wissen, wo deine Bilder letztendlich gehängt werden?

Als Fotografin lebt man – wie in jedem anderen Beruf auch – von dem, was man tut. Wenn jemand sich diese Fotos aufhängen mag und dafür Geld bezahlt, dann ist es wahrscheinlich jemand, der diese Realität nicht kennt. Und klar, man will wissen, wo es hinkommt. Aber letztendlich erhofft man sich, dass sich Menschen mit den schwierigen Themen auseinandersetzen, die man vielleicht sonst nicht erreicht. Darum geht es.

Ein gutes Beispiel für mich ist, dass ich viele Ausstellungen in Einkaufszentren in der Türkei gemacht habe, in denen ich das Alltagsleben und Porträts aus dem Land gezeigt habe. Parallel dazu ist ein türkischer Fotograf nach Deutschland geschickt worden und beide Positionen wurden einander gegenübergestellt. Ich bin sehr von dieser Methode überzeugt. Die Kunst kommt direkt zu den Menschen in einer Alltagssituation und man kann so vielleicht etwas bewegen.

»Eines der ersten Fotos aus der Serie ›Nature_up side down‹ zeigt Kiefern in einem Wald in Aschaffenburg, Bayern. Seit 2017 fotografiere ich in den Wäldern, Biosphärenreservaten und Nationalparks in Deutschland. In die biologischen Aspekte des Themas arbeite ich mich langsam ein. Mit der Kamera erforsche ich, was sich verändert und was gleich bleibt und beziehe die Folgen der Klimakrise mit ein.«

Vor fünf Jahren hast du beschlossen, von der Türkei zurück nach Deutschland zu ziehen. In deinem neuesten Projekt fotografierst du Natur. Es bleibt durchaus ein relevantes politisches Thema. Die Menschen stehen aber nicht mehr im Fokus.

Was man schön findet, schützt man. So kam ich zu dem Thema Natur. Die braucht uns nicht. Aber wir brauchen die Natur. Schon bevor der Klimawandel in aller Munde war, zog ich los und entdeckte die Schönheit der Natur im Allgemeinen und speziell die Bäume in Deutschland. Die bedrohte Natur eröffnet einen neuen Blickwinkel und ist eine Parallele zu unserer fragilen Demokratie, in der komplexen, unruhigen Zeit und Welt gerade. Darum geht es mir.

Herzlichen Dank für das Gespräch, liebe Andrea.

INFO

Andrea Künzig arbeitet dokumentarisch und künstlerisch. Sie ist vor allem für ihre globale Arbeit über soziale Themen bekannt, hat in mehr als 50 Ländern fotografiert und längere Zeit in Jerusalem und Istanbul gelebt. Für die Zeitschrift Geo hat die Fotografin über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg für das Langzeitprojekt »Basic Needs« in Kenia fotografiert. Im Kehrer Verlag wurden ihre Fotobücher »Istanbulum« (2010) und »Visions: Palestine« (2004) veröffentlicht. Ihre Fotografien und Reportagen, für die Andrea Künzig vielfach ausgezeichnet wurde, sind in internationalen Ausstellungen zu sehen. Die Fotografin wird durch die Agentur laif vertreten.

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Foto: Max Kissler


Cale Garrido ist freie Journalistin, Fotoredakteurin und Kuratorin in Hamburg. Sie arbeitet an dokumentarischen und künstlerischen Fotoprojekten, Ausstellungen und Publikationen, unter anderem für Greenpeace Media, Triennale der Photographie Hamburg und Kaunas Photography Gallery. Ihren thematischen Fokus legt sie dabei auf gesellschaftliche Zusammenhänge und die Umwelt- und Klimaproblematik.

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