»Village People 1965–1990« von Jindřich Štreit – Vernissage in der FREELENS Galerie
Auszüge aus den Eröffnungsreden unseres Kurators Peter Lindhorst und Denis Brudna, Herausgeber der Photonews, anlässlich der Vernissage von »Village People 1965–1990« des tschechischen Fotografen Jindřich Štreit am 17. November 2022 in der FREELENS Galerie.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, dass Sie an diesem stürmischen, überaus unwirtlichen Herbsttag den Weg in unsere Galerie gefunden haben. Die unverhofft sonnigen Spätherbst-Tage sind vorüber, die Leichtigkeit des Seins weicht der Schwermut, die von den drängenden Themen gefüttert wird, ein Krieg, Hunger, eine immer wieder aufploppende Pandemie, Menschenrechte im Iran und selbst ein scheinbar so unschuldiges Vergnügen, nämlich Fußball, bringt uns in einen Gewissenskonflikt. Eine Wirtschaftskrise, Klimakrise, Energiekrise, Glaubenskrise, Identitätskrise…Krise, Krise!

All das lässt sich für einen kurzen Moment prima ausblenden, wenn wir durch die Ausstellung schreiten und uns nur zu willig in eine Welt zurückkatapultieren lassen, die schwarzweiß ist und die sich viel langsamer zu drehen scheint und in der jeder so wirkt, als sei er mit Sicherheiten ausgestattet und kenne seinen Platz.
Eine Welt, in der die Kirche nicht mit Bedeutungsverlust behaftet ist, sondern – im Gegenteil – ihren Anhängern Stabilität zu geben scheint. In der der Erwerb eines TV-Gerätes Glücksempfinden und kollektives Staunen hervorruft. In der der Tod Bestandteil des Lebens ist und Tote aufgebahrt in der Wohnstube liegen, während im Vordergrund das Leben weiterspielt. In der Katzen nicht vordergründig dazu da sind, als effektheischender Social-Media-Trend zu fungieren, sondern sich als vertraute Begleiter des Alltags gerieren. In der Hundezungen über Gesichter schlecken.

In der Münder aufgerissen werden und den Blick auf Zahnreihen freigeben, die nicht gebleacht sind. In der ein Tänzchen auf der einsamen Tanzfläche gewagt wird, während die Musik nicht aus Boxen, sondern aus den Trichtern der Blasinstrumente der Dorfkapelle ertönt. In der getrunken und geraucht und geknutscht wird, als gäbe es kein Morgen. In der der große Rausch einfach an Ort und Stelle ausgeschlafen wird. In der Menschen erschöpft von der Arbeit, aber nicht ausgebrannt sind. In der Feuerwehrmänner mit Ehrgefühl ihre eigene Bedeutung vor der Kamera vorführen.
In der Kinder mit Panzern spielen, ohne dass jemand daneben steht und darüber nachdenkt, ob es die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst, wenn es mit Kriegsspielzeug hantiert. In der Damen stolz ihre Pelzmäntel präsentieren. In der Ehebündnisse mit einem tiefen Schluck aus der Flasche besiegelt werden. Eine Welt, die nicht mit Gas, sondern mit Kohlebriketts beheizt wird. Eine Welt, die lustig ist, nostalgisch, ehrlich, so unmittelbar ist. Eine Welt, die echt ist. Eine heile Welt, die wir mit Entzücken betrachten.
Dieses Narrativ möchte man nur zu gerne für sich stehen lassen. Aber vielleicht verhält es sich auch ganz anders. Vielleicht ist die Welt doch eine andere, nicht so harmlos, nicht so leichtfüßig, nicht so heiter – vielleicht ist die Welt zu eng, das System erstarrt, vielleicht lässt sie dem Einzelnen wenig Möglichkeit zur Entfaltung. Vielleicht ist der Rückzug ins Private eine Möglichkeit, den Verhältnissen zu entkommen. Vielleicht schimmert unter all der nostalgisch-melancholisch-heiteren Firnis der einzelnen Szenen ebenfalls etwas hervor, was als Druck und Beschränkung, was als Krise wahrzunehmen ist.

Die Serie »Village People« von Jindřich Štreit umfasst den Zeitraum von 1965 bis 1990 und zeigt Szenen aus dem ländlichen Milieu in den tschechischen Regionen Nordmähren und Böhmen. Wir erinnern uns: nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings wird die Periode der Normalisierung ausgerufen, die repressive Maßnahmen umfasst, Zensur, Auflösung von unabhängigen gesellschaftlichen und politischen Organisationen, die im Reformjahr 1968 entstanden waren, Säuberungen in der kommunistischen Partei. Regimekritiker*innen wurden verfolgt und inhaftiert.

Jindřich Štreit begann 1964 während seines Studiums an der Pädagogischen Fakultät der Palacky-Universität in Olomouc zu fotografieren. Nach seinem Abschluss arbeitete er als Lehrer in Sovinec und Jirikov. Aktiv nahm er am öffentlichen Leben teil und wurde eine Art Dorfchronist, der das Alltagsgeschehen und Bedingungen innerhalb eines starren sozialistischen Systems festhielt. Irgendwann brachte ihn sein fotografisches Engagement in schwere Bedrängnis.
Genau an dieser Stelle stellt sich die Frage: Wer ist dieser Jindřich Štreit und vor allem, wo ist dieser Jindřich Štreit. Die zweite Frage kann ich beantworten. Leider muss ich hier mit einer liebgewonnenen Gewohnheit brechen. Jindrich konnte aus beruflichen und privaten Gründen nicht kommen, was ich sehr bedauere. Normalerweise würde ich sagen: dann muss das Werk für sich sprechen und das könnte es natürlich auch ohne Zweifel, aber ich habe natürlich ein As im Ärmel. Denis Brudna als Gast und Experte für tschechische Fotografie und insbesondere des Werkes von Jindřich Štreit.
Peter Lindhorst – 17.11.2022