Kriegs-, Krisen- & Konfliktfotografie
Schwerpunktthema

Fototheorie nach Sontag: Wir alle sind Bürger*innen der Fotografie

Die Texte von Susan Sontag gelten als Standardreferenz zur Kriegs- und Krisenfotografie. Dabei sind in den vergangenen Jahren viele neue Beiträge zum Thema erschienen. Obwohl diese neue und breitere Perspektiven eröffnen, sind sie bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden.
Text – Dr. Evelyn Runge

Wer durch die Linse mitfühlender Fotograf*innen sieht, kann mit Hilfe ihrer Fotografien seinen Status als distanzierte Beobachter*in überwinden und lernen, selbst mitfühlender zu sein. Das schreibt der Kommunikationswissenschaftler Robert Hariman in seinem Aufsatz »Watching War Evolve«. Wie viele andere Autor*innen fokussiert er auf die Betrachter*innen und potenzielle – tatsächliche oder erwünschte – Wirkungen von Fotografien bei ihnen. Hariman schreibt jedoch nichts darüber, wie Fotograf*innen in Konflikten agieren – obwohl er die These entwickelt, dass Krieg, Technologie und Fotografie sich stets ändern und beeinflussen. Die Innenperspektive aus Konflikten von Fotojournalist*innen fehlt gleichermaßen in klassischen wie neueren Beiträgen zur Theorie der Fotografie: Die Autor*innen beziehen sich auf veröffentlichte Bilder und damit vor allem auf Fragen der Repräsentation. Informationen aus dem Innenleben von Fotojournalist*innen bleiben auf Interviewbände mit Fotojournalist*innen oder Autobiografien wie jene der Amerikanerin Lynsey Addario beschränkt.

Der Diskurs über Fotografie und ihre Theoretisierung ist bis heute von Susan Sontag geprägt. Und das obwohl (oder gerade weil?) sie herablassend und zum Teil feindselig über Fotograf*innen schreibt. Ihre Essaysammlung »Über Fotografie« (1978) wird deshalb von Kritiker*innen auch als »Gegen Fotografie« betitelt. Sontag vergleicht Fotograf*innen mit Jäger*innen auf (Foto-)Safari und die Kamera mit Schusswaffen. Sie wirft ihnen vor, die Fotografierten durch den Blick zu viktimisieren und sie ihres Namens zu berauben. Obwohl Sontag Teile dieser Thesen in ihrem Buch »Das Leiden anderer betrachten« (2003) abgeschwächt hat, wird sie bis heute stark mit dieser kritischen Perspektive auf Fotografie assoziiert. In der neueren Literatur über digitale Fotografie und Social Media hingegen wird Fotografieren als visuelles Werkzeug für Empowerment, zur Stärkung des Selbstbewusstseins und als Selbstermächtigung zu freiem Handeln interpretiert.

Susan Sontags Thesen zur Fotografie

Seit der Veröffentlichung von »Über Fotografie« und »Das Leiden anderer betrachten« sind weitere Bücher erschienen, die sich explizit mit Kriegs- und Krisenfotografie auseinandersetzen. Die herausragenden Werke zu diesen Themen sind interessanterweise ebenfalls von Frauen verfasst worden, wie beispielsweise »Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen« von Judith Butler (dt. 2010), »The Cruel Radiance: Photography and Political Violence« (2010) von Susie Linfield oder »The Ironic Spectator« von Lilie Chouliaraki (2013). Zu erwähnen sind auch »Das Klonen und der Terror: Der Krieg der Bilder seit 9/11« (2011) von William J. T. Mitchell sowie »The Public Image« von Robert Hariman und John Louis Lucaites (2016). Dass außer Butlers und Mitchells Werken keines der Bücher ins Deutsche übersetzt wurde, mag einer der Gründe sein, warum Essays deutschsprachiger Autor*innen sich weiterhin bevorzugt auf Sontag beziehen.

Die Arbeitsbedingungen von Fotojournalist*innen in Kriegs- und Konfliktregionen werden in den bekanntesten Essays kaum angesprochen. Umso wichtiger, dass eine künftige Theorie der Fotografie von Kriegen die Perspektiven von Praktiker*innen stärker einbezieht. Foto: Lene Münch

Autorinnen wie Butler und Azoulay nähern sich über eine Re-Lektüre bisheriger Theorien der Fotografie in Kriegen ihren Themen: Machtverhältnisse zwischen Fotograf*innen und Fotografierten, Einfluss auf das Sehen durch politische, militärische und wirtschaftliche Strukturen, sowie potenzielle Reaktionen der Betrachtenden. Sie befassen sich mit zum Zeitpunkt des Schreibens des jeweiligen Buches aktuellen Beispielen, die öffentlich weit verbreitet wurden, wie beispielsweise Judith Butlers Überlegungen zu den Folterbildern aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Breit angelegt sind auch die Formen dessen, was unter Kriegs- und Krisenfotografie diskutiert wird: nicht nur fotojournalistische Produkte, sondern auch Bildmaterial, das durch Privatpersonen oder Angehörige von Nichtregierungsorganisationen aufgenommen wurde (Chouliaraki 2013), oder Fotografien, die als Beweise in Gerichtsverfahren zu Kriegsverbrechen verwendet werden (Duffy 2018).

Judith Butler fokussiert in ihrem Essay »Folter und die Ethik der Fotografie – Denken mit Susan Sontag« (erschienen in »Raster des Krieges«) auf das Framing – den Interpretationsrahmen – von Fotografien. Sie nimmt die Beschränkungen in den Blick, die fotografischen Aufnahmen aus Kriegen auferlegt werden, um darüber hinausgehen zu können. Es geht dabei nicht nur um Fotoerlaubnisse etwa bei eingebetteten Fotojournalist*innen, sondern auch um die Haltung von Rezipient*innen, wen sie überhaupt als menschliches Wesen wahrnehmen und in ihrem Leiden anerkennen. Ähnlich argumentiert Ariella Azoulay in »The Civil Contract of Photography«. Sie bezieht sich dabei auf den Nahostkonflikt und den Fakt, dass Israel den Palästinenser*innen in der besetzten Westbank und Gaza kein politisches Selbstbestimmungsrecht zugesteht. Laut Azoulay ermöglicht die Fotografie denjenigen, denen der herrschende Staat keine Bürgerrechte zubilligt, dennoch Bürger werden: »Even if one is a noncitizen in the state where one is governed, in the citizenry of photography, one is a citizen.«

Gemeinsame Verantwortung für den fotografischen Akt

Butler, Azoulay und Chouliaraki ist gemeinsam, dass sie ein genaueres Hinsehen und die Übernahme von Verantwortung durch den Betrachtenden fordern. Diese Übernahme von Verantwortung kann der Beginn von persönlichem, individuellem politischen Handeln sein. Dabei geht es den Autorinnen nicht um eine Verurteilung der Rezipierenden; vielmehr nehmen sie eine pragmatisch-konstruktive Haltung ein. Sie befassen sich mit dem Sehen, dem Nicht-Sehen und dem Nicht-Sehen-Wollen. Am radikalsten ist Azoulay: Sie entfaltet – in Anlehnung an politische Theorien des Gesellschaftsvertrags – die These, dass Fotograf*innen, Fotografierte und Betrachter*innen in einem Regime der Fotografie zusammenkommen. Dort tragen sie als Bürger*innen der Fotografie gemeinsame Verantwortung. Für Azoulay steht das Foto nicht zwischen den Betrachter*innen und der Welt, sondern zeigt soziale Beziehungen auf: »Becoming a citizen in the citizenry of photography means giving renewed sanction to the gap between the world and the picture.«

Eine künftige Theorie der Fotografie von Kriegen sollte Perspektiven von Praktiker*innen stärker einbeziehen und nicht bei einer Theoretisierung des veröffentlichten Bildes stehenbleiben. Bislang werden die Arbeitsbedingungen von Fotojournalist*innen in Kriegs- und Konfliktregionen in den bekanntesten Essays kaum angesprochen. Dabei kann durch die Reflexion der Produktionsbedingungen sichtbar werden, was im bisherigen Diskurs oft verborgen bleibt – wie beispielsweise das Mitgefühl der Fotojournalist*innen mit den Fotografierten, soziales Engagement sowie das Alleingelassenwerden durch Auftraggeber*innen und Redaktionen in Bezug auf Versicherungen und die Sicherheit vor Ort. Die breitere Öffentlichkeit erfährt von den Herausforderungen der Produktion höchstens bei einer Entführung oder Tötung von Fotojournalist*innen. Ein weiteres Feld der Reflexion betrifft Fotografien und Archivmaterial, die es nicht in die Hauptnachrichten und globalen Schlagzeilen schaffen aber durchaus Handlungen hervorrufen, etwa in Verfahren vor nationalen und internationalen Strafgerichten. Künftige fototheoretische Arbeiten stehen vor der Herausforderung, diese Entwicklungen sowie die Vielfältigkeit der Akteur*innen zu berücksichtigen.

Ariella Azoulay, W.J.T. Mitchell, Judith Butler, Susie Linfield oder Lillie Chouliaraki: Alles Autor*innen, deren Texte zur Kriegs- und Krisenfotografie interessante Perspektiven eröffnen und viel zu wenig Beachtung finden. Foto: Lene Münch

Info

Im Text erwähnte Publikationen

Lynsey Addario
Jeder Moment ist Ewigkeit: Als Fotojournalistin in den Krisengebieten der Welt. (dt. 2016)

Ariella Azoulay
The Civil Contract of Photography (2008)

Judith Butler
Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen (dt. 2010)

Lilie Chouliaraki
The Ironic Spectator: Solidarity in the Age of Post-Humanitarianism (2013)

Aiofe Duffy
Bearing Witness to Atrocity Crimes: Photography and International Law. In: Human Rights Quarterly 40 (2018), S. 776–814

Robert Hariman
Watching War Evolve: Photojournalism and New Forms of Violence. In: Liam Kennedy und Caitlin Patrick (Hg.): The Violence of the Image. Photography and International Conflict (2014), S. 139-163

Robert Hariman und John Louis Lucaites
The Public Image: Photography and Civil Spectatorship (2016)

Liam Kennedy und Caitlin Patrick (Hg.)
The Violence of the Image: Photography and International Conflict (2014)

Susie Linfield
The Cruel Radiance: Photography and Political Violence (2010)

Susan Sontag
Über Fotografie (dt. 1978)

Susan Sontag
Das Leiden anderer betrachten (dt. 2003)

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Dr. Evelyn Runge
forscht zum globalen Bildermarkt, Fotojournalismus und Politik, zur Zeit an der Martin Buber Society der Hebrew University of Jerusalem in Israel. Publikationen (u.a.): »Glamour des Elends. Ethik, Ästhetik und Sozialkritik bei Sebastião Salgado und Jeff Wall« (2012); »Motor/Reise. Basiswissen für die Medienpraxis« (2016, mit Hektor Haarkötter). Auf Twitter ist sie als @evisualyn zu finden.